Das Lebenslicht


Da saß ich nun auf der dreckigen Kante des Hochhauses und blickte hinab auf den grauen Alltag und die Tiefe, die da vor mir lag. Ich hatte mir extra ein möglichst hohes und wenig gesichertes Haus gesucht. Es sollte mir den Weitblick geben, mich wieder zu finden und mein Leben neu ordnen zu können. Dieses Haus schien perfekt - gerade zu anonym konnte ich über den Müllplatz vom Hinterhof ins Haus gelangen. Niemand schien sich hier zu kennen oder für den anderen zu interessieren. Beim meinem ersten Versuch hatte ich noch mit „Hallo“ gegrüßt, was mir seltsame Blicke und Reaktionen einbrachte. Ich hatte hier oben schon ein paar Male gesessen und hinab gesehen, mich selbst und mein Leben bedauert und war wieder hinunter gegangen. Wie war ich hier hingekommen? Klar hier hinauf war ich- über den Fahrstuhl, die letzten Treppen und ein defektes Schloss auf das Dach gekommen - - - aber in diese Situation???
Mein Leben wurde ordentlich durcheinander gerüttelt, Trennungen, Verluste, Enttäuschungen, viel Unsicherheit, was meine Zukunft anbelangte und jetzt dieser schmerzliche Liebeskummer.

Mein Liebeskummer war mal tiefer Schmerz, dann Wut, Enttäuschung oder wüste Vorwürfe und manchmal Hoffnungslosigkeit. Und dann die Trauer, nicht nur die Frau sondern auch einen besonderen Menschen verloren zu haben, der mich tief berührt hatte. Aber sie wollte einen anderen und ich musste das akzeptieren. So pendelte ich immer wieder zwischen Wut/Enttäuschung und Verständnis, zwischen Traurigkeit und Vergessen wollen, zwischen kämpfen/bedingungslos lieben wolllen und aufgeben/loslassen.

Ich hatte mir auch schon mal vorgestellt, von hier oben zu springen, ein letztes Mal unglaubliche Freiheit zu spüren, den selbstbestimmten freien Fall. Dann würden SIE und all die anderen schon merken, was SIE getan hatten und wozu SIE mich gebracht hatten. Hatten SIE es?

Dann waren da ja auch noch meine Familie und Freunde. Ich würde Schmerz erzeugen, wie ich ihn doch selbst erlebte und keinem anderen wünschte. Und doch stellte ich mich an den Rand und sah hinab. Heute war so ein Tag, an dem ich alles in Frage stellte. Wurde ich tatsächlich geliebt? Von irgendwem? Wäre die Welt nicht besser dran - ohne mich? Wie soll das überhaupt weitergehen? Macht das alles noch Sinn? Wann würde der Schmerz aufhören? Meine Gedanken wurden durch eine Stimme unterbrochen.

„Was machst Du hier?“, hörte ich eine hohe, vermutlich kindliche Stimme. Die Sonne schien aus der Richtung, aus der ich die Frage vernommen hatte und blendete mich. Ich meine aber, einen kleinen Jungen erkannt zu haben.

 

Ich wollte gerade darüber nachdenken, wie er wohl hierher gekommen war und wer er ist und... als er seine Frage wiederholte: „Was machst Du hier?“. „Ich ... ich schaue mich hier nur mal um.“, versuchte ich meinen Aufenthalt auf dem Dach zu erklären. Die ganze Zeit überlegte ich, ob bzw. woher ich ihn kennen könnte, denn er kam mir irgendwie bekannt vor. „Hier oben findest Du nichts, was Du nicht auch unten findest.“, hörte ich ihn plötzlich sagen. „Ganz schön neumalklug“, dachte ich bei mir. „Woher willst Du das wissen?“, flapste ich ihn an. „Du siehst traurig aus.“, entgegnete er mir. Ich dachte, ich könnte meine Gefühle gut hinter meiner Mimik verstecken, aber Kinder haben da wohl einen feinen Sinn.

„Naja, manchmal ist das Leben auch traurig und anstrengend.“, sagte ich zu ihm. Er lächelte mich an und streckte mir seine Hand entgegen, „komm mal mit.“

Bis heute weiß ich nicht genau, warum ich es gemacht habe und was dann wirklich passierte.

Aus irgendeinem Grund nahm ich seine Hand... und in dem Moment spürte ich, wie mich eine unglaubliche Wärme durchströmte. Es war, als ob ein gleißendes Licht - ein Lebenslicht - alle meine dunklen Gedanken, Sorgen und Ängste auslöschen und heilen würde. Ich fühlte eine mich tief durchdringende Liebe und Geborgenheit. Ich fühlte mich in diesem Moment so sehr gehalten, sicher und zuversichtlich, wie wohl noch nie in meinem Leben und schloss für einen Moment meine Augen. Ich war so dankbar in diesem und für diesen Moment, wo sich alles richtig und leicht anfühlte.

 

Vielleicht war es die Sonne, die mich gewärmt und geblendet hatte, vielleicht waren es Glückshormone, die dadurch ausgeschüttet wurden ... ich kann auch nicht sagen, wie lange ich meine Augen geschlossen hatte, aber als ich die Augen öffnete, stand ich allein auf dem Dach. Vermutlich war es auch die Sonne, die mich blendete ... jedenfalls hatte ich Tränen in den Augen und war zutiefst berührt.

 

Noch heute spüre ich diese Liebe und Wärme – auch in schweren Momenten, die mich immer mal wieder begleiten. Sie ist ein Teil von mir geworden und ich teile sie gerne und so oft es mir möglich ist.

 

Das Leben ist ein so wertvolles Geschenk. Früher habe ich manche Tage bedauert, wenn ich aufwachte. Heute weiß ich, wie dankbar ich für jeden Tag bin, den ich erleben darf. An den schweren und schmerzlichen Tagen strecke ich manchmal meine Hände der Sonne entgegen... und erinnere mich an mein Lebens-Licht und
bin dankbar, dass es in mir leuchtet.

(aus dem Internet Steffen Zöhl 2017)





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